Evelyn Weiss
Was ist Landschaft?
Die malerischen Antworten von Thomas Kohl
Denken wir uns ein Gemälde in kleine Stücke von annähernd gleichmäßiger Färbung zerschnitten und diese Stücke dann als Steine eines Zusammenleg-spieles verwendet. Auch dort, wo ein solcher Stein nicht einfärbig ist, soll er keine räumliche Form andeuten, sondern als flacher Farbfleck erscheinen.Erst im Zusammenhang mit den anderen wird er ein Stück Himmel, ein Schatten, ein Glanz, eine konkave oder konvexe Fläche etc.
Ludwig Wittgenstein, »Bemerkungen über die Farbe«¹
Führt das Zitat von Wittgenstein in die tieferen Erkenntnisschichten des Arbeitsprozesses von Thomas Kohl, so umfasst die Beantwortung der Titelfrage den inhaltlich ästhetischen Kern seines Werkes in einem größeren Zusammenhang. Zunächst wird auf die Frage, was Landschaft sei, jeder eine Antwort finden. Jeder kennt irgendeine Landschaft, lieblich oder erschreckend, erstrahlend oder dunkel, geheimnisvoll oder offen. Jeder verbindet mit Landschaft Erlebnisse, Stimmungen, Gefühle. Jeder trägt das Bild der Natur und des Waldes als ein Urmuster in sich, das gleichzeitig das Urmuster von Unendlichkeit und Unermesslichkeit bedeutet.
Im frühen französischen Strukturalismus der fünfziger Jahre hat Gaston Bachelard, ein Vorläufer von Michel Foucault, in seiner »Poetik des Raumes« auf den Begriff der »inneren Unermeßlichkeit « im Zusammenhang mit Landschaft hingewiesen. Sie entsteht aus einer ganzen Gruppe von Eindrücken, die nichts mit den Auskünften des Geografen zu tun haben. Vor allem im Naturraum des Waldes sieht er eine Welt ohne Grenzen: »… sein Raumgeheimnis, über den Schleier von Stämmen und Blättern hinweg in unbestimmter Weite ausgedehnt, für die Augen verschleiert ist recht eigentlich eine transzendentale psychologische Funktion.«2
Der Wald, die Natur als Seelenzustand, als Begriff einer gesehenen, gefühlten Grenzenlosigkeit, die hier weniger von der Philosophie der Romantik als von der Wahrnehmungspsychologie abgeleitet ist, mag dem jungen Kunststudenten der Düsseldorfer Akademie vorgeschwebt haben, als er immer wieder, vor Kälte bibbernd, draußen, außerhalb der Meisterklasse stundenlang zeichnete.
Mit einem ganz harten, gespitzten Bleistift brachte er dünne, sparsame Linien auf das weiße Papier. Er zeichnete in der Natur aber nicht nach der Natur. Er bildete nichts ab, stellte nichts dar.
Das stundenlange Zeichnen war eine äußerst konzentrierte Übung, zu der sich der Kunststudent zwang. In dieser sehr langen Phase, in der er ausschließlich zeichnete und übte, erweiterte der Künstler sein seherisches Urteilsvermögen und sein visuelles Wissen. Um durchzuhalten unterwarf er sich selber einer strengen physischen und gleichzeitig mentalen Disziplin. Während des Studiums sollte man etwas lernen: Thomas Kohl lernte zeichnen, Zeichen setzen. Eine Kunstpraxis, die er heute noch ausübt, nachdem er sich seit 1989 längst der Malerei widmet. Angedeutete Landschaften werden auf dem Papier sichtbar, Linien verdichten sich zu Bergen und Tälern, und bei aller Wiedererkennbarkeit handelt es sich doch um einen höchst abstrakten Vorgang.
Auch wenn die Linie der Zeichnung eine Landschaftskontur simuliert, so bleibt sie ein rein artifizielles Element, das der Natur nicht abgeschaut ist. Anfang dieses Jahres reiste Thomas Kohl nach Marokko und es entstand eine Serie von Zeichnungen auf kleinsten Blättern (Abb. S. 12–19, Zeichnungen aus dem Essaouira-Skizzenbuch, 2004, 9,7 x 14,5 cm, außer Katalog). Die Bleistiftspur ist etwas weicher, breiter als in den frühesten Arbeiten geworden, die höchste Reduzierung ist geblieben. Manchmal erscheint nur eine Linie als Horizont – oder als Sanddüne, manchmal taucht eine Gebirgskette in der Ferne auf, eine Biegung im Tal. Von diesen Zeichnungsminiaturen geht eine große Kraft und Faszination aus, langsam entsteht vor uns die herrliche afrikanische Landschaft mit ihren Weiten, mit ihren Wüsten, mit Licht, Sonne und Gebirge als Fata Morgana unserer Sinne. Dies kann nur geschehen, wenn das Zeichen-Setzen als Akt von höchster Konzentration erfolgt, als eine äußerste Anspannung, die auf eine kleine weiße Papierfläche fokussiert.
Über zwanzig Jahre trennen diese Marokko-Miniaturen von den ersten Zeichnungen, die der damals zwanzigjährige Student der Gerhard Richter-Klasse schuf. Es sollten acht Jahre vergehen, bis er 1989 den Bleistift mit dem Pinsel tauschte und sein erstes Ölbild malte. Das Prozedere des Malens war mit dem des Zeichnens eigentlich identisch. Kohl »zeichnete« mit dem Pinsel und der Farbe direkt auf die Leinwand, eine direkte alla prima-Malerei, ein Akt des Malens, der nur durch die Trocknungszeiten unterbrochen wird. Und identisch mit der Zeichnung bleibt auch der inhaltliche Diskurs dieser Malerei: die Landschaft.
Das war zunächst das Überraschendste bei den Werken von Thomas Kohl: einem jungen Künstler zu begegnen, der sich mit letzter Konsequenz in seiner Kunst bewusst auf die Landschaftsdarstellung beschränkt. Dabei war schon am Anfang unseres Jahrhunderts auf das Ende dieser Gattung deutlich hingewiesen worden. Die ökologische Katastrophe, die unsere Landschaft verändert und zerstört, wurde präzise beobachtet und vorausgesagt. Aber auch die positivistische Sicht der Welt, die den Triumph der maschinellen Exaktheit postulierte, sah für die Landschaftsdarstellung keine Existenzmöglichkeit mehr.
Auf den ersten Blick ist man über Kohls Landschaftsbilder verblüfft und überrascht. Begegnen unseren Augen bekannte, vertraute, erinnerte Bilder von Bergen und Hügeln, von Tälern und Flüssen, von Bäumen und Horizontlinien, die mit spontanem und schnellem Pinselstrich auf die Leinwand gebannt sind. Es schleicht sich jedoch gleichzeitig das Gefühl ein, dass diese Bilder doch anders sind als zum Beispiel die Landschaften der Impressionisten, die uns hier sofort einfallen. Die Impressionisten malten draußen bei Sonne, Wind und Wetter, sie zogen aus mit präparierten Leinwänden, um das Licht und seine Veränderungen in der Landschaft einzufangen. Kohls Landschaften sind nicht draußen in der Natur, en plein air gemalt, sondern ausnahmslos im Atelier.
Und so ist der große entscheidende Unterschied das Licht, das heißt, die fehlende Lichtquelle in Kohls Bildern. Hier werden von keinem Punkt aus Licht und Schatten geworfen, hier beleuchten kein Mond und keine Sonne einige Bildpartien hell, um andere im Dunkeln zu lassen, hier scheint das Licht von der gesamten Bildtextur aufgesogen zu sein. Die hellen Partien oberhalb der Horizontlinie und zwischen den Bäumen sind keineswegs als Lichtquellen auszumachen, sondern weisen nur einen anderen Helligkeitsgrad in der Farbigkeit auf.
Kohls Bilder beschreiben nichts, sie erzählen nicht von bekannten Landschaften und Gegenden. Absichtlich werden alle identifizierbaren Merkmale weggelassen, nichts Anekdotisches lässt sich festmachen. Der Künstler sucht nach dem allgemeinsten Merkmal einer Landschaft, nach archetypischen Mustern, die er dann frei einsetzt. So glaubt man ständig, etwas wiederzuerkennen, um dann festzustellen, dass diese oder jene Gegend keinesfalls dargestellt ist. Kohls Gemälde sind Projektionen für Vorstellungen, für Gefühle und Stimmungen, die das Erscheinungsbild der Natur in uns verändern. Der Künstler, der Betrachter, die Landschaft werden mit verteilten RollenProtagonisten eines subtilen Spiels von Wahrnehmung und Erkenntnis.
Es ist kein Zufall, dass der Künstler sich gerade für das Novellenfragment »Lenz« (1835) von Georg Büchner so eingehend interessierte und danach eine Serie von 23 Gemälden schuf. Er gab ihnen als Titel Zitate aus dem Text. Die verschiedenen Stimmungen von Schmerz und Euphorie, von Trauer und Beglückung, von Hoffnung und Verzweiflung, die der Dichter Lenz bei seinen Wanderungen durchlebt, werden kongenial durch Kohls Bilder visuell erlebbar. In keiner Weise handelt es sich um Illustrationen der Textabschnitte, um Interpretationen des literarischen Stoffes.
Grundsätzlich geht es dem Maler nie um narrative Inhalte, ums Anekdotische, um die Darstellung bestimmter Landschaftsmotive oder bestimmter Städte, Flüsse oder Berge. Man wird bei Bilderserien wie »Lenz« nie einen Erzählstrang festmachen können. Das Verbindende in der Bilderfolge zeigt sich in einer bestimmten Bilddynamik, die sich von Serie zu Serie völlig neu entwickelt.
Die Titel der Bilder sind stets ein fester Bestandteil seines OEuvres. Die Titelsetzung ist ein schöpferischer Akt, der fast gleichwertig neben dem Malen steht und dem der Künstler eine hohe Bedeutung zumisst. Die Titel entstehen nicht gleichzeitig mit der Fertigstellung der Gemälde, sondern werden häufig viel später vergeben. Die Titelsetzung erfolgt nach ganz bestimmten Kriterien: Die Titel müssen im Klang der Worte passen, von der Phonetik her stimmen, sie müssen die Stimmung der Bilder ausloten, den Farben suggestiv entsprechen. Die Titel sind Mutmaßungen des Künstlers, die er an uns weitergibt. Ein gutes Beispiel für diese synästhetischen Annäherungen ist der Titel »Coimbra« (Kat. Nr. 29–35, Abb. S. 60/61) für eine Serie von sieben hochformatigen Bildern (Öl auf Papier), die 1999 entstand. Bestimmend ist hier nicht eine konkrete Erinnerung an die alte portugiesische Stadt. Es ist auch nicht wichtig, ob der Künstler je dort war, da er uns ja nicht seine Stimmung und seine Gefühle beim Besuchen dieser Stadt schildern will.
Bestimmend für die Wahl des Titels war dieser wunderbare, warme, umarmende Klang des Wortes »Coimbra«, wo sich in der Mitte das Weiche »m« an das harte »b« schmiegt und im Tremolo des »r« der Ton melodisch weiter vibriert. Der Klang der Farben vermittelt sich in analoger Weise. Die weichen, in erlesenen und zurückhaltenden rosa-grauen Tönen gehaltenen Flächen im oberen Drittel des Bildes werden durch die härteren, sparsamen, aber sehr bewusst gesetzten Pinselstriche bedrängt, aber auch aufgefangen, während der große weiße Raum darunter das Echo des Geschehens aufnimmt. Und sollten einem Betrachter vielleicht die melancholisch-ernsten Weisen des portugiesischen Fadogesanges im Ohr erklingen, so wäre dies als eine zu präzise, musikalischtopographische Festlegung für die Interpretation der Bilder nicht zwingend – aber möglich.
Nie waren die Titel näher am Bild als bei der Serie nach dem »Lenz«-Fragment von Büchner. Dort wird ein Bild zum Beispiel mit folgenden Zeilen bezeichnet: »Es verschmolz ihm alles in einer Linie, wie eine steigende und sinkende Welle zwischen Himmel und Erde; es war ihm, als läge er an einem unendlichen Meer, das leise auf und abwogte« (Kat. Nr. 74). Hier will es fast scheinen, als hätte Büchner dies angesichts der Bilder von Kohl geschrieben. Der Maler spürte die Kongenialität der pikturalen und literarischen Sprache und wählte 23 Passagen aus der Novelle als Titel aus. Bei Thomas Kohl ist die Titelsetzung ein Akt von hoher Reflektion und ein spontaner Einfall gleichzeitig. Sie ist eine strategische Entscheidung für die Positionierung des Werkes und für seine spätere Rezeption.
Je länger man sich in die Bilder von Kohl vertieft, desto weniger scheinen sie uns im herkömmlichen Sinne vertraut, desto mehr drängt sich die Überzeugung auf, dass wir die Bilder doch noch nie gesehen haben, dass sie mit den Landschaften, die wir als gemeinsames Erbe der Kunstgeschichte in uns herumtragen, nicht viel gemein haben, dass diese Bilder sich einer wie auch immer gearteten Festlegung ständig entziehen. Je intensiver man die Bilder betrachtet, desto deutlicher wird die hohe malerische Qualität, die sensible Behandlung der Oberflächen, die unerhört reiche Nuancierung der Farbpalette; gerade die Beschränkung auf eine bestimmte Farbskala, in der die Farben Grün, Ocker, Blau prädominieren, lässt die Nuancierung und die Modulation der Töne besonders hervortreten. Je näher man diesen Bildern rückt, je mehr man in sie eindringt, umso stärker wird der Eindruck, dass es sich hier um gegenstandslose Malerei handelt. Die Erinnerung an Landschaften verflüchtigt sich immer mehr. Bäume, Berge, Täler? Höchstens Konturen von Landschaften, Skelette von Bergen, Andeutungen von Bäumen als Farbkonglomerate. Wie in einer Eruption bäumt sich Erdhaftes nach oben in den Raum hinein, während von oben Farbschleier nach unten tropfen. Mit seinem abstrakten Formenvokabular steht Kohl aber nicht in der Tradition der frühen gegenstandslosen Malerei des 20. Jahrhunderts, wie sie beispielhaft von Wassily Kandinsky vertreten wird, auch nicht in der Nähe des Informel in Europa nach 1945 oder des amerikanischen Abstrakten Expressionismus eines Jackson Pollock oder Franz Kline. Mit Kohls Malerei verbinden wir eher die magischen, im Licht aufgelösten Landschaftseindrücke William Turners, wobei sich Caspar David Friedrichs melancholische Seelenwundheit im Angesicht des unendlichen Kosmos wie ein Filter in unsere Wahrnehmung dazwischenschiebt. Ein direkter Zusammenhang kann aber in beiden Fällen nicht konstruiert werden.
Leider geschieht dies oft, wenn zu nahe liegende Filiationen erst gar nicht hinterfragt werden. In unserem Falle haben natürlich Kohls Gemälde mit der Auffassung und Behandlung des Lichts, dem Hauptprotagonisten in Turners Bildern, genauso wenig zu tun wie mit Friedrichs schwermütiger Weltsicht der deutschen Romantik. Obwohl solche Zusammenhänge immer wieder aufblitzen, tut der Betrachter von Kohls Bildern gut daran, sich eins nach dem anderen von allzu fest gemeinten Vorbildern in der Kunstüberlieferung zu verabschieden.
Der scheinbaren Spontaneität und Unmittelbarkeit von Kohls Malerei geht stets eine intellektuell-disziplinierte Entscheidung voraus. Der Entstehungsprozess für diese Bilder ist daher lang und kurz zugleich. Denn sehr lang ist die »Inkubationszeit«. Landschaften entstehen erst einmal lange Zeit in seinem Kopf, um sich dann relativ schnell in einer Serie auf der Leinwand zu konkretisieren. Es ist ein Vorgang, der an die Arbeitsweise von Giorgio Morandi erinnert, der für seine Stillleben tage- und wochenlang seine berühmten Flaschen und Vasen arrangierte, um dann die Bilder in kürzester Zeit zu malen.
Spontan und diszipliniert zugleich hat sich Thomas Kohl also entschieden: für die Malerei und für die Landschaft. Kann im 21. Jahrhundert der Erfindergeist hier neue Domänen erobern, neue Kanons aufstellen? Kohl ist bescheiden aber selbstsicher: »Ich will keine neue Tonleiter erfinden, aber alles aus ihr herausholen.« Wer sich auf diese Töne einlässt, wer der suchenden Gewissheit des Künstlers nachspürt, wer es sich in seinen Farbinseln heimisch macht, wird vieles entdecken: die brodelnde Erde, die Ruhe einer Flusslandschaft, die Wirren des Wachstums, die Bewegtheit und das Erhabene. Wer sich darauf einlässt, wird den Wohlklang der chromatischen Tonleiter empfinden, die Zartheit von vorbeiziehenden Wolkenformationen in blauen Himmelsfeldern, wie zum Beispiel in den jüngsten Aquarellserien. Wer sich darauf einlässt, kann unversehens bei sich selber ankommen. Thomas Kohls Malerei kann eine neue Wahrnehmung des eigenen Ichs bedeuten.
1 Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über die Farbe, Frankfurt a. M. 1979, Nr. 266, S. 108.
2 Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, München o. J. (Ullstein-Buch 3136), S. 215.